Angewandte Erforschung des visuellen Systems
Hanna Zimmermann ist seit Juni 2022 Juniorprofessorin für „Angewandte Erforschung des visuellen Systems“ am ECDF und der Charité – Universitätsmedizin Berlin. Im Fokus ihrer Forschung stehen Veränderungen der Netzhaut des Auges, die durch Erkrankungen wie Multiple Sklerose, Alzheimer, Schlaganfall und Herz-Kreislauf-Erkrankungen entstehen. Ihre Arbeitsgruppe „Interdisziplinäre Retinaforschung“ nutzt innovative digitale Technologien, um Bilder der Netzhaut, auch Retina genannt, zur besseren medizinischen Versorgung einzusetzen.
Die Netzhaut ist Teil des zentralen Nervensystems, es gibt hier die gleichen Nervenzellen wie im Gehirn. Kommt es bei Krankheiten wie der Multiplen Sklerose zu einem Verlust von Nervenfasern, wirkt sich das auch auf die Netzhaut aus: Es entstehen minimale Veränderungen in der Dicke der Nervenschichten. Anders als das Gehirn ist die Netzhaut jedoch nicht von Knochen umschlossen und dadurch für hochauflösende optische Untersuchungsmethoden zugänglich. Die Netzhautuntersuchung ist wesentlich einfacher und kostengünstiger durchzuführen als eine Kernspintomographie des Gehirns, aktuell die Standarduntersuchung bei Multipler Sklerose. Mit Hilfe digitaler Bildverarbeitung können die feinen Veränderungen der Netzhaut die durch MS entstehen, messbar gemacht werden. Zimmermann und ihr Team setzen hier auf künstliche Intelligenz, genauer gesagt auf Deep Learning. Diese Methode des Maschinellen Lernens erlaubt beispielsweise eine genaue Messung der Veränderungen der Schichtdicken der Netzhaut., aber auch zum Krankheitsverlauf selbst kann Deep Learning Informationen aus den Netzhautbildern ziehen: „Momentan sehen wir drei Haupteinsatzzwecke: Zur Diagnose, Risikoabschätzung und zur Überwachung des Krankheitsverlaufs, also auch die Überprüfung auf das Ansprechen eines Medikaments“, sagt die Juniorprofessorin zu den Zielen ihrer Forschung. So konnten Zimmermann und ihr Team beispielsweise zeigen, dass Patient*innen, die an MS erkrankt sind und bei denen die Ganglienzellschicht der Netzhaut dünner ist, eine höhere Wahrscheinlichkeit für einen zeitnahen, weiteren Krankheitsschub haben. Gegebenenfalls kann dann präventiv eine wirksamere Therapie eingeleitet werden. Zusammen mit Forscher*innen auf der ganzen Welt setzt sich Zimmermann dafür sein, dass die Untersuchung der Netzhaut Standard bei der Diagnose von Multipler Sklerose wird.
Nicht nur bei Nervenkrankheiten sondern auch bei Krankheiten, bei denen eine Fehlfunktion der Blutgefäße eine Rolle spielt, sieht Zimmermann großes Potential in der Netzhautuntersuchung, Bei der Netzhautuntersuchung lassen sich Blutgefäße am Augenhintergrund besonders gut erkennen und Wissenschaftler*innen können mit digitalen Methoden Veränderungen in deren Durchmesser, Dichte, oder Verlauf messen. Solche Veränderungen können beispielsweise bei einem Herzinfarkt oder Schlaganfall Hinweise geben, wie wahrscheinlich ein weiteres solches Ereignis ist. Patient*innen mit hohem Risiko können dann häufiger präventiv untersucht werden.
Aktuell untersucht Zimmermann mit ihrem Team Veränderungen der Blutgefäße bei Personen, die am Post-COVID-Syndrom leiden. Durch das Coronavirus kann es zu Schäden an den Blutgefäßen kommen, die wahrscheinlich mitverantwortlich für Symptome wie dauerhafter Erschöpfung sind. Die Netzhautuntersuchung soll daher auch bei der Therapieforschung zu dieser Krankheit, die aktuell Millionen von Menschen das Leben erschwert, zum Einsatz kommen.
„Langfristig möchten wir erreichen, dass die Untersuchung der Netzhaut eine Routineuntersuchung wird, vielleicht sogar in der Hausarztpraxis. So können verschiedene Risikofaktoren für neurologische oder vaskuläre Erkrankungen identifiziert werden und diese Krankheiten kann dann möglicherweise früher und besser behandelt werden“, sagt Zimmermann. Zimmermann arbeitet mit Bildern der Netzhaut von Geräten, die bereits weitläufig in vielen Kliniken und Augenarztpraxen verwendet werden. Um mit Hilfe innovativer digitaler Methoden wie Deep Learning aussagekräftige Informationen aus diesen Bildern zu extrahieren, ist die Arbeit über Disziplinen hinweg unerlässlich: In Zimmermanns Team arbeiten Wissenschaftler*innen und Doktorand*innen mit medizinischem, naturwissenschaftlichem und IT-Hintergrund, sowie Optometrist*innen. Es besteht außerdem ein enger Austausch mit Augenärzt*innen. Diese Interdisziplinarität ist aber kein Selbstläufer: „Mir ist wichtig, dass wir alle über unseren wissenschaftlichen Tellerrand schauen. Als Data Scientist ist es wichtig zu wissen, woher die Bilder kommen, mit denen man arbeitet: Was für Beschwerden haben die Patient*innen? Was passiert dabei im Körper, und was davon verursacht vielleicht die Veränderungen der Netzhaut, die wir finden? Gleichzeitig hilft es auch Mediziner*innen, das Konzept hinter einer Analysemethode zu verstehen, um deren Potential aber vor allem auch Grenzen zu verstehen“, sagt die Juniorprofessorin.
Zimmermann studierte Physikalische Technik – Medizinphysik an der Berliner Hochschule für Technik (ehemals Beuth Hochschule) und promovierte anschließend in Medizinwissenschaften an der Charité – Universitätsmedizin Berlin. Neben ihrer wissenschaftlichen Arbeit will die das Thema Digitalisierung auch in ihrer Lehre aufgreifen: „In der medizinischen Ausbildung ist noch Luft nach oben, was den Umgang mit Datenverarbeitungsprogrammen und neuen digitalen Tools angeht. Dabei sind diese Methoden bereits fest in der Medizin verankert und werden in Zukunft immer mehr an Bedeutung gewinnen. Vor allem Studentinnen will ich daher gerne für digitale Methoden begeistern, das ist mir eine Herzensangelegenheit neben meiner Forschung.“