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Recap:"Nachhaltiger, digitaler Wandel? Chancen und Risiken für Mensch und Klima"

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Nachhaltiger, digitaler Wandel – kann das Gelingen? In der zweiten Ausgabe des neuen ECDF-Formats „Ein Raum – Vier Perspektiven“ am 28. Oktober 2021 beleuchteten wieder vier Gäste ihre verschiedenen Perspektiven auf das Thema und was es in ihren Augen braucht, damit die digitale Transformation nachhaltig und sozial verlaufen kann. 

Die Klimakrise ist in vollem Gange, in Glasgow findet unter Protesten der Weltklimagipfel statt. Technische Innovation und Digitalisierung werden häufig als der Schlüssel zum Erreichen von mehr Nachhaltigkeit und der dringend notwendigen Klimaziele gehandelt – aber wie hängen Digitalisierung und Nachhaltigkeit zusammen? Darüber diskutierten ECDF-Professor Tilman Santarius, Professor für Sozial-ökologische Transformation und nachhaltige Digitalisierung am ECDF und der Technische Universität Berlin, Ann Cathrin Riedel, Themenmanagerin für Digitalisierung und Innovation der Friedrich-Naumann-Stiftung, Rainer Karcher, Global Director IT Sustainability in der Siemens AG, und Line Niedeggen, Sprecherin Fridays for Future Heidelberg.

Ann Cathrin Riedel von der Friedrich-Naumann-Stiftung plädiert direkt zu Beginn des Panels für eine breitere Definition von Nachhaltigkeit: „Wir schauen viel auf Klima und Ressourcen, ich versuche immer klar zu machen, dass wir Digitalisierung so gestalten müssen, dass sie auch in Zukunft Bürger*innen- und Menschenrechte schützt und Freiheiten ermöglicht“; auch Line Niedeggen, Aktivistin bei Fridays for Future (FFF) und Rainer Karcher, Head of Global Sustainability der Siemens AG, sind sich einig, dass der Begriff mittlerweile eher inflationär benutzt wird. ECDF-Professor Tilman Santarius hält daher einen neuen Begriff für sinnvoller: „Ich verwende lieber den Begriff der sozial-ökologischen Transformation – der Begriff ist etwas weniger catchy, unterstreicht aber eher worum es geht:Es geht nicht nur darum, Dinge so zu machen, dass sie auch in 10, 20, 30 Jahren noch Bestand haben – eben nachhaltig sind – oder Sachen einfach ein bisschen besser oder anders zu machen, im Sinne von ökologischer Modernisierung; es geht darum, dass wir wirklich grundständig verändern, transformieren, Sachen anders machen müssen bei Produktion und bei Konsum“, so Santarius.

Im 21. Jahrhundert organisieren sich auch zivilgesellschaftliche Organisationen wie FFF über Plattformen wie Instagram, Twitter und Facebook, um ihren Protesten auf der Straße die nötige Reichweite zu verschaffen. „All das braucht Strom“, erklärt Moderatorin Katja Weber, „ist das ein Widerspruch, Frau Niedeggen?“ Niedeggen verweist entschlossen darauf, dass die Handlungen jedes Einzelnen und jeder Einzelnen zwar wichtig sind „es bringt aber nichts, wenn ich auf Dinge verzichte, aber kein politischer Druck erzeugt wird – so besiegen wir nicht den fossilen Kapitalismus oder dämmen die Klimakrise ein. 71% der Emissionen werden von 100 Unternehmen erzeugt, da hat es sehr wenige Auswirkungen was ich in meinem WG-Zimmer an Strom verbrauche“, erklärt die Studierende. Sie geht noch weiter: „Wir müssen die strukturellen Begebenheiten nutzen um überhaupt eine Stimme in diesem System zu haben, in dem wir alle aufgewachsen sind. Sich abzukapseln bringt nichts!“. Niedeggen kritisiert, dass den FFF-Aktivist*innen und Demonstrant*innen auf jeder Demo entgegengebracht wird, dass sie doch mal das Handy ausmachen sollten: „Wenn ich das Handy ausmache und mich zu Hause einschließe kommt die Klimakrise trotzdem!“, so Niedeggen. Für sie ist es wichtig, als Gesellschaft zu lernen, wie diese Technik sinnvoll genutzt werden kann.

Tilman Santarius sieht die Debatte ebenfalls als vollkommen fehlgeleitet an, für ihn sind zwei Punkte besonders dringlich: „Das, was wir bisher an Digitalisierung in der Gesellschaft haben, sollten wir möglichst nachhaltig nutzen. Dafür müssen wir zum einen die Hardware-Produktion anschauen, die ist im Moment weit davon entfernt sozial oder ökologisch nachhaltig zu sein; aber auch Dienstleistungen, zum Beispiel Apps, müssen nachhaltiger werden. Die andere Frage ist: Was brauchen wir noch zusätzlich an Digitalisierung, um Nachhaltigkeitsziele zu erreichen?“

Rainer Karcher sieht auf Seite der Unternehmen große Einflussmöglichkeiten und große Verantwortung. Bereits heute gibt Siemens alte Hardware wie Laptops und Smartphones zur Aufbereitung weiter, damit sie anderweitig – zum Beispiel in Schulen – noch zum Einsatz kommen können. Für ihn ein Beispiel wie gelebte Nachhaltigkeit aussehen kann, ohne greenwashing. Siemens ist unter anderem in den ressourcen- und energieintensiven Bereichen Infrastruktur, Mobilität und Medizintechnik vertreten und setzt hier auf Erneuerbare Energien wo immer es geht. „Bis 2030 will Siemens klimaneutral sein und auch bei den Lieferketten arbeiten wir daran transparenter zu werden“, so Karcher. Gleichzeitig müssen Konsumentscheidungen für Endkund*innen transparenter und einfacher werden, ist sich Santarius sicher. Mit seinem interdisziplinären Team aus Ökonom*innen, Psycholog*innen, Soziolog*innen und Mitarbeiter*innen aus weiteren Fachrichtungen forscht der Wissenschaftler bereits an einer digitalen Lösung, dem Green Consumption Assistant, der automatisch nachhaltige Alternativen beim Online Shopping vorschlägt.

Besonders das Konzept des ökonomischen Wachstums und gleichzeitiger Vereinbarkeit mit den Klimazielen wird im Panel in Frage gestellt: „Wir brauchen mehr digitale Lösungen, die unsere Unternehmen und ganze Gesellschaften von unserem Wachstumszwang befreien. Das heißt, gutes Leben, gutes Einkommen, gute Jobs ohne ständig weiter wachsen zu müssen“, sagt Santarius. Für Karcher hat der Prozess des Umdenkens bereits angefangen, auch wenn Unternehmen wie Siemens sich noch nicht komplett von der Idee des Wachstums verabschiedet haben. Während Unternehmen sich auf einem guten Weg wähnen, wird Niedeggen deutlich, was daran problematisch ist: „Am Ende stoßen wir an physikalische Grenzen, egal ob ich persönlich finde, dass wir schon vieles vorangetrieben haben. Wir sind mitten in der Klimakrise und schaffen es nicht, offen und ehrlich darüber zu reden, was eigentlich notwendig ist“, so die Aktivistin im Livestream. Rainer Karcher sieht die Unternehmen in der Verantwortung aber glaubt auch, dass die Transformation auch in den Köpfen ankommen muss und zwar in allen gesellschaftlichen Klassen, das ist für ihn noch nicht geschehen. „Die meisten Leute fühlen sich von der Klimakrise nicht betroffen, die politische und wirtschaftliche Kommunikation dazu ist komplett gescheitert“, sagt Line Niedeggen. Tilman Santarius glaubt, dass die Transformation im Kopf zwar schon stattfindet aber „Das reicht nicht!“, sagt er, „die Trendwende zeichnet sich noch nicht ab –Strukturen müssen sich verändern“. Rainer Karcher sieht diese Trendwende bei Siemens bereits darin, dass das Unternehmen vom Konzept der Intellectual Property abrückt, wenn das Teilen von Erfahrungswerten und Daten der Nachhaltigkeit dient.

Einig sind sich die Teilnehmer*innen, dass das Recht auf Reparatur einen wichtigen Beitrag leisten kann zur sozial-ökologischen Transformation. Santarius sieht auch die Verlängerung der Garantiepflicht und eine Modularität der Geräte, um einfacher Reparaturen durchführen zu können, als wichtige Schritte für eine nachhaltigere Digitalisierung. Wichtig dafür in seinen Augen: Lokale Anlaufstellen in wohnortnähe, die Elektrogeräte reparieren und so die Lebensdauer verlängern.

Line Niedeggen findet es zwar wichtig, auch immer wieder über Kleinigkeiten und den Beitrag jedes und jeder Einzelnen zu sprechen aber „So lange die strukturelle Frage nicht gestellt wird und wir nicht über die große Zerstörung und die große Ausbeutung sprechen, bin ich nicht optimistisch, dass wir zeitnah viel verändern“, so Niedeggen. Ann Cathrin Riedel betont zum Schluss, dass von politischer Seite Gesetze geschaffen werden müssen: „Wir können und müssen das System von politischer Seite ändern. Es müssen Vorgaben gemacht werden, dass ich Geräte reparieren lassen kann, dass ich meinen Akku austauschen kann, dass ich modulare Geräte haben muss“, erklärt die Freie Demokratin. Neben dem Fokus auf die Ausbeutung von Menschen bei der Herstellung unserer Geräte lenkt Riedel auch nochmal den Fokus auf die Ausbeutung von Nutzer*innendaten: „Eine Sache kommt mir oft zu kurz und zwar wie Menschenrechte missbraucht werden, wenn es um die Generierung von Daten geht, beispielsweise die Nutzung von Daten aus Überwachungskameras um Gesichtserkennung besser zu machen – das müssen wir dringend mitdenken. In diesem Fall ermöglicht Regulierung Freiheit“. Für diese Standards müssen Unternehmen, Politik und Zivilgesellschaft an einen Tisch kommen, so Santarius zum Abschluss.

Aktuelle Entwicklungen der Digitalisierung aus verschiedenen Blickwinkeln – darum geht es in der neuen Eventserie „Ein Raum – Vier Perspektiven“ des Einstein Center Digital Future. In regelmäßigen Abständen kommen Akteur*innen aus Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft in einem moderierten Panel zusammen. Das nächste Panel findet Anfang 2022 statt, weitere Infos dazu finden Sie zeitnah auf unserer Website unter Veranstaltungen und in unserem Newsletter.

 

//Hier finden Sie das Video zur Paneldiskussion und Informationen zur Veranstaltung.

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//Hier finden Sie weitere Informationen zum Green Consumption Assistant.