Unser Alltag ist zunehmend geprägt von intelligenten technischen Systemen und Produkten. Die Entwicklung dieser komplexen Systeme ist ein Gemeinschaftsprojekt unterschiedlicher Disziplinen. Systems Engineering (SE) wird im Zuge der Digitalisierung diverser Branchen zunehmend relevanter und kommt verstärkt zum Einsatz. Wie sieht Systems Engineering im digitalen Zeitalter konkret aus? Im achten ECDF Industry Forum am 09. Dezember 2021 – auch diese Ausgabe wieder digital – diskutierten knapp 50 Teilnehmer*innen den Einsatz von Systems Engineering.
Die Veranstaltung startete mit der Begrüßung durch Prof. Dr. Odej Kao, Sprecher des Einstein Center Digital Future (ECDF) und Moderator Tim Kawalun. Anschließend führte Prof. Dr.-Ing. Lydia Kaiser, ECDF-Professorin für Digitales Engineering 4.0 am ECDF und der TU Berlin, die Teilnehmendenin das Thema ein. Engineering steht in diesem begrifflichen Zusammenhang nicht für Ingenieurswesen im klassischen Sinn, sondern meint im Systems Engineering alle Tätigkeiten, die von der erfolgreichen Realisierung, über den Betrieb bis zur anschließenden Entsorgung von Systemen anfallen. Dieser ganzheitliche Ansatz bedient sich dabei den systemischen Prinzipien, wissenschaftlichen Erkenntnissen, Technologien sowie zugehörigen Managementmethoden.
SE ist nicht neu, sondern wird bereits seit Jahrzenten in Großprojekten zum Beispiel in der Luft- und Raumfahrt eingesetzt. Projekte in Luft- und Raumfahrt zeichnen sich durch hohe Unsicherheit, Transdisziplinarität sowie Komplexität aus. Industrieunternehmen sehen sich heute durch den Fortschritt der Digitalisierung mit denselben oder ähnlichen Faktoren konfrontiert. „Während Produkte früher hauptsächlich mechanisch geprägt waren – zum Beispiel das Auto oder auch Prothesen – sind heutige Funktionen zunehmend durch Software realisiert. Die Anwendung von Künstlicher Intelligenz wird die Systeme noch leistungsfähiger und komplexer machen. Damit ist die Entwicklung aus dem Blickwinkel einer einzigen Disziplin nicht mehr möglich. Auch die Methoden aus einzelnen Fachdisziplinen reichen nicht aus, da sie das Zusammenwirken nicht berücksichtigen – hier kommt SE ins Spiel: „Als es beim Wettrüsten um die Eroberung des Weltraums ging, erlebte Systems Engineering einen Schub in der Anwendung.“, erklärt Lydia Kaiser. Auslöser für die neuartige Zusammenarbeit war ein Problem, das dann systemisch und systematisch mit einer Kombination aus Systemgestaltung und Projektmanagement gelöst wurde. „Was gerne als Rocket Science bezeichnet wird, ist für die heutigen Unternehmen so wichtig, weil sie im Grunde ihren Weltraum durch die Digitalisierung erobern wollen. Das sieht natürlich je nach Fragestellung unterschiedlich aus, mit unterschiedlichen Beteiligten wie z.B. dem Kunden, Vertrieb, der Konstruktion, der Softwareentwicklung oder der IT-Security. Wichtig bei der Gestaltung der Lösung ist das Systemdenken, eine Kompetenz, mit der wir komplexe Erscheinungen als Ganzes, als System verstehen“, so Kaiser.
Für Unternehmen bedeutet das, dass die interne Transformation ganzheitlich abläuft und das Zusammenwirken von Organisation, Mensch und Technik als System verstanden werden muss. Fresenius Medical Care hat diesen Prozess bereits vor vielen Jahren angefangen. Im Industry Forum berichtete Nico Michels, Senior Vice President Engineering Systems bei Fresenius Medical Care, von seinen Erfahrungen. “Im Vordergrund stehen bei einem solchen Prozess Kollaboration und die anschließende Umsetzung. Bei Fresenius Medical Care haben wir ein Konzept, das verschiedene digitale Werkzeuge vorsieht, unter anderem einen Digital Twin, den Einsatz eines Digital Thread und Engineering Intelligence, quasi einer Mischung aus Model-Based Systems Engineering und Künstlicher Intelligenz“, erklärt Michels, „dafür sind vor allem Strukturen ohne große Hierarchien nötig und ein bestimmtes Mindset, das dazu führt, dass praktisch gearbeitet wird, Mitarbeiter*innen ermächtigt werden und sich sicher genug fühlen, transparent arbeiten zu können. Wichtig ist auch, sich selbst zu verändern und das System weiterzuentwickeln“. Fabian Ahrendts, Head of Group Systems Engineering der Volkswagengruppe, betonte ebenfalls, dass ein Umdenken stattfinden muss: „Wir sprechen hier von einer Megatransformation – die Organisation von neuen Fahrzeugprojekten sieht heute ganz anders aus als früher. Alleine dafür bewegen wir zehntausende Entwickler*innen“. Carolin Rubner von der Siemens AG sieht eine erfolgreiche Transformation vor allem im agilen Arbeiten aller Entwicklungsabteilungen. In den Softwareabteilungen gibt es positive Erfahrungen.
In der anschließenden Diskussion betonten Expert*innen nochmal deutlich, dass spezifische fachliche Fähigkeiten sehr wichtig sind aber immer mit dem Systemdenken kombiniert werden sollten. Prof. Dr. Rainer Stark, Leiter des Fachgebietes Industrielle Informationstechnik der Technischen Universität Berlin, sieht hier vor allem Nachholbedarf bei der Ausbildung von einer neuen Generation an Ingenieur*innen: „Tools gibt es viele für die einzelnen digitalen Modellierungsaspekte des Systems Engineering. Der methodische Kern des Systems Engineering muss jedoch zunächst an den wissenschaftlichen Einrichtungen der Universitäten auf stabilere Füße gestellt werden. In Verbindung mit agilen Vorgehen und ganzheitlichen Prozessen wird dann eine robuste System Engineering Kompetenz daraus. Die ganzheitliche Implementierung in der industriellen Praxis bleibt selbst dann anspruchsvoll genug!“
Die Teilnehmer*innen aus Industrie und Wissenschaft haben das Potential von SE deutlich gemacht. SE wird uns im digitalen Zeitalter dabei helfen, Akteure aus unterschiedlichen Disziplinen zusammen zu bringen und Lösungen ganzheitlich und transdisziplinär zu erarbeiten. Hierbei können nicht nur Produkte als System gesehen werden, sondern auch die Wertschöpfung selbst. Im Fachbereich Digitales Engineering 4.0 wird aktuell daran geforscht, wie SE-Ansätze unterstützen können, das Engineering innerhalb der Unternehmen zu gestalten. Sollten Sie an dieser Fragestellung Interesse haben, stellen wir gerne den Kontakt her.