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Digital Global Health als Schlüssel für hochwertige Gesundheitsversorgung

100 Millionen Menschen weltweit werden jedes Jahr in extreme Armut gedrängt. Der Grund: fehlende Absicherung vor finanziellen Risiken im Krankheitsfall. Dr. Julius Emmrich und Dr. Samuel Knauss sind Ärzte und Forscher an der Charité – Universitätsmedizin Berlin und Assoziierte Mitglieder des Einstein Center Digital Future (ECDF). Im Rahmen des „Digital Clinician Scientist“-Programms des Berlin Institute of Health  untersuchen die beiden Mediziner, wie mobile Technologien den Menschen Schutz vor medizinischer Verarmung in Entwicklungsländern bieten können.

 

Sie kommen beide aus der Neurologie. Wie entstand die Idee des Forschungsprojektes im Bereich der digitalen Gesundheitsversorgung?

Knauss: Neurologische Erkrankungen verursachen weltweit die größte Krankheitslast. Gleichzeitig ist die Behandlung kostenintensiv und der Zugang zu fachkundiger Betreuung oft schwierig. Gerade deswegen beschäftigen wir uns als Neurologen mit Themen der globalen Gesundheit.

Emmrich: Seit mehreren Jahren engagieren wir uns neben Studium und Facharztausbildung in der Entwicklungszusammenarbeit. Gemeinsam mit motivierten Kolleginnen und Kollegen habe ich 2011 die medizinische Hilfsorganisation Ärzte für Madagaskar gegründet, um die Gesundheitsversorgung insbesondere für sozial benachteiligte Bevölkerungsschichten zu verbessern. Der Verein unterstützt bestehende Gesundheitseinrichtungen mit medizinischer Ausstattung und Fachkräftetraining. Dabei haben wir erlebt, dass der Zugang zu Gesundheitsversorgung sehr stark einkommensabhängig ist, und ein Großteil der Bevölkerung von medizinischer Verarmung bedroht ist. Gleichzeitig beobachteten wir den rapiden digitalen Wandel in Afrika: in den letzten zehn Jahren hat haben sich die Nutzerzahlen für Mobiltelefone in Subsahara Afrika vervierfacht, und Mobile Money – also die Bezahlfunktion mit dem Mobiltelefon – wurde in vielen Regionen zur alltäglichen Praxis für einen Großteil der Bevölkerung. Wir sehen in dieser Entwicklung ein immenses Potential, Patientinnen und Patienten ganz direkt erreichen und vor medizinischer Verarmung schützen zu können.

 

Die Abdeckung von Krankenversicherungen in Ländern mit mittleren und niedrigen Einkommen liegt bei unter zehn Prozent. Welche Auswirkungen hat dies?

Emmrich: Mangels Zugangs zu Krankenversicherung und Bankkonto sind Patientinnen und Patienten gezwungen, ihre Behandlungen bar aus der eigenen Tasche zu bezahlen – Geld, das sie in vielen Fällen nicht oder nicht so schnell wie nötig aufbringen können. Häufig bedeutet das große finanzielle Not – oder den Verzicht auf die überlebenswichtige Behandlung. Allein in Subsahara Afrika werden jedes Jahr 1,6% der Bevölkerung durch hohe und unvorhersehbare Gesundheitsausgaben in extreme Armut getrieben.

 

Welche Instrumente könnten helfen, um Menschen vor medizinischer Verarmung zu schützen?

Knauss: In Europa hat die Entwicklung funktionierender Gesundheitssysteme Jahrzehnte gedauert – die erste Krankenversicherung gab es in Deutschland schon Ende des 19. Jahrhunderts. Die Entwicklung verlief eher kontinuierlich. In Afrika hingegen erleben wir gerade einen Entwicklungssprung: durch die rasante Digitalisierung werden schnell und effizient neue Wege beschritten. Große Teile der Bevölkerung haben in den letzten Jahren erstmals Zugang zu allgemeinen Finanzdienstleistungen erhalten und das ebnet auch den Weg zu erschwinglicher Gesundheitsversorgung.

 

In Madagaskar sind Sie Implementierungspartner der nationalen Gesundheitskasse. Wie ist es zu dieser Kooperation gekommen? Und wie ist die Akzeptanz des Tools in der Bevölkerung und bei den behandelnden Ärzt*innen?

Emmrich: Mit dem madagassischen Gesundheitsministeriums arbeiten wir seit mehreren Jahren eng zusammen – gerade um die Bevölkerung vor Verarmung durch medizinische Behandlungskosten zu schützen. Gemeinsam entstand die Idee, uns die rasante Verbreitung mobiler Bezahlsysteme zu Nutze zu machen, um Patientinnen und Patienten direkt zu erreichen ­– über ein Medium, das bereits in ihren Alltag integriert ist. Mit Unterstützung durch die Else Kröner-Fresenius-Stiftung, das Berlin Institute of Health und die Charité haben wir dieses Ziel dann umgesetzt und das mobile Gesundheitssparbuch mTOMADY (Madagassisch für gesund) entwickelt. Es ist seit Ende 2018 in der Hauptstadt Antananarivo verfügbar. Die Akzeptanz des Gesundheitssparbuchs ist hoch, weil es Menschen eine sichere Möglichkeit gibt, Geld für ihre Gesundheitsversorgung zu sparen oder von Freunden und Familien – die z.T. in ganz anderen Landesteilen leben – zu empfangen. Für Krankenhäuser gestaltet sich die Abrechnung transparenter und es gibt eine Kostenersparnis. 

Knauss: In unserem begleitenden Forschungsprojekt untersuchen wir nun, welchen Nutzen das Gesundheitssparbuch tatsächlich hat und welche Kosten dafür anfallen - auf individueller und landesweiter Ebene. Denn dafür interessiert sich auch das madagassische Gesundheitsministerium. Wenn sich das Gesundheitssparbuch bewährt, ist das Ministerium daran interessiert, unsere Lösung in die landesweite nationale Gesundheitskasse zu integrieren und dadurch allen 25 Millionen Madagassinnen und Madagassen Zugang zu erschwinglicher Gesundheitsversorgung ermöglichen.

 

Sie sind beide als Digital Clinician Scientists ausgewählt worden. Dadurch können Sie Ihre Facharztweiterbildung zur Hälfte in der Forschung absolvieren. Was bedeutet dies für Ihre Forschungsarbeit?

Knauss: Das DCS Programm gibt uns den Freiraum, dieses Forschungsprojekt erfolgreich umzusetzen, weil wir zu 50% von klinischer Tätigkeit freigestellt werden. Das Programm ist speziell für digitale Forschungsprojekte angelegt und damit in Deutschland einzigartig. Die Freistellung ermöglicht uns, unsere ärztliche Expertise, digitalen Fertigkeiten und praktische Erfahrungen in der Entwicklungszusammenarbeit zusammenzubringen, um das Forschungsprojekt bestmöglich voranzubringen.

 

Wie ist der derzeitige Stand ihres Forschungsprojektes und was haben Sie sich für das kommende halbe Jahr vorgenommen?

Emmrich: Wir werden in den kommenden drei Jahren eine Cluster-randomisierte Studie in mehr als 60 öffentlichen Gesundheitseinrichtungen in Antananarivo durchführen.  Die Ergebnisse der Designstudie, die wir im Vorfeld durchgeführt haben, haben uns Aufschluss gegeben, wie die Anwendung der App aussehen muss, und wie Informationen an die Patientinnen und Patienten verpackt und kommuniziert werden können. Zunächst haben wir das Tool dann in wenigen Gesundheitszentren implementiert, um die Software zu testen und anzupassen. Im Pilotprojekt konzentrieren wir uns auf Schwangere und junge Mütter als Zielgruppe – denn sie sind besonders benachteiligt und werden häufig durch hohe Kosten während Schwangerschaft und Geburt überrascht. In den kommenden sechs Monaten werden wir vor allem viel vor Ort sein, um die Studienumsetzung mit dem madagassischen Team zu planen. Außerdem bereiten wir unsere Software für die Skalierung auf nationale Ebene vor.

 

Sie sind assoziierte Mitglieder des Einstein Center Digital Future (ECDF). Was erhoffen Sie sich von dieser Kooperation?

Knauss: Die Lösung der wirklich großen Probleme gelingt nur gemeinsam. Aus Erfahrung mit unserem Projekt können wir sagen: Ganz verschiedene Perspektiven und Erfahrungsschätze ermöglichen es, Inhalte neu zu denken und zu bewerten.

Emmrich: Wir erhoffen uns von der Mitgliedschaft, genau von diesen verschiedenen Perspektiven zu profitieren. Wir freuen uns auf den Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen und darauf, Digitalisierungsforschung auch im globalen Kontext zur Förderung von Chancengleichheit und Armutsreduktion als Thema einzubringen.